Mittwoch, 5. März 2008
Abschiede nehmen
Meine Oma lebte im Winter bei uns, in ihrer Wohnung nebenan. Den Sommer über war sie in der Bretagne und wir meist die ganzen Schulferien bei ihr zu Besuch. Sie machte die besten Crêpes und Galettes, anderes konnte sie auch gar nicht kochen. Meine Mutter hat ihr vieles nie verzeihen können, aber getröstet hat sie wohl, dass ihre Mutter uns eine so großartige Oma war. Sie starb eines Sommers in Frankreich. Die, die nie genug vom Leben bekommen konnte. Wir fuhren gleich am nächsten Tag zu ihr. Sie lag aufgebahrt in einem Raum des Bestatters, ihr wurden die Haare geschnitten, die Hände waren blau, sie, immel eitel, hätte es fürchterlich gefunden. Für ihren Bruder, mit dem sie sich nie gut verstanden hatte, war es ein Segen. Er streichelte und küsste sie, er sprach mit ihr, weinte um sie und nahm Abschied. Traurig und selbstverständlich. Ich fand es schön, sie zu sehen. Sie war nicht mehr sie selbst, aber in meine Erinnerungen haben sich nie die Bilder meiner verstorbenen Oma gedrängt. Ich war 18, hatte keine Scheu, kam aber nicht auf die Idee, sie noch ein letztes Mal zu berühren. Meine Mutter, sanft wie selten, fragte mich später, ob ich sie noch einmal in den Arm genommen hätte. Ich hätte es tun sollen, sagte sie und ich hätte es tun sollen. Und das war es, was ich so gerne hätte tun wollen, als meine Mutter starb. Die Umstände waren schwieriger, sie lag nirgends aufgebahrt, sondern tot auf unserem Küchenboden. In unserer Wohnung waren Polizei und Spurensicherung. Ich durfte sie sehen, vielmehr durch die Tür blinzeln. Die Kommissarin allerdings wollte nicht, dass ich sie berührte und ich dachte, aus irgendwelchen ermittlungstechnischen Gründen. Inzwischen denke ich, sie wollte mich schützen. Sie hat mir meinen Abschied genommen. Meine Mutter hatte eine so weiche und zarte Haut, ihren Duft werde ich nie vergessen. Ich hätte sie so gern ein letztes Mal berührt und in den Armen gehalten. Das bleibt mir.

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